Beispiel II
Beziehungsanalyse
Gunther und Maria sind schon eine Ewigkeit verheiratet, obwohl sie offenkundig kühl und instrumentell miteinander umgehen.
Ihre Frage: Doch warum bleiben sie überhaupt zusammen, wenn sie doch so offenkundig nicht glücklich sind?
Antwort: # 6 DER STREIT, Wandellinie 2
Im STREIT kommen die Trigramme Himmel und Wasser zusammen, der Vater und der mittlere Sohn, der in der Pubertät um sein eigenes Ich, seinen eigenen Weg ringt. Das ohnehin mächtige Familienoberhaupt ist hier auch noch in der mächtigen oberen Position, während der verunsicherte Sohn nach unten verwiesen ist und sich schwer behaupten kann. Himmel ist oben und strebt noch weiter hinauf, Wasser ist unten und strebt noch weiter hinunter, ihre Bewegungsrichtungen sind also entgegengesetzt. Gewissermaßen sind hier zwei Personen, die sich gar nicht begegnen! Der Himmel mit seinen drei starken Yang-Linien hat höchste Ansprüche, die er dogmatisch umsetzen möchte. Wasser bietet hingegen eine armselige Performance… Hier klafft etwas grob auseinander!
In manchen Beziehungsanalysen kann man das obere Trigramm dem einem Beziehungspartner zuweisen, und das untere dem anderen, da gibt es eindeutig jemanden, der den Ton angibt und jemanden, der die untergeordnete Rolle ausfüllt. Bei Gunther und Maria lässt sich das nicht so genau unterscheiden. Tatsächlich spielt mal er, mal sie den rechthaberischen und selbstgerechten Himmel mit seinen hohen Glaubenssätzen und seiner dogmatischen Weltanschauung und drängt den anderen in die unangenehme Rolle des beschämten, angeklagten Wassers. Man könnte sagen: Gunther und Maria führen gemeinsam ein Stück auf mit dem Titel DER STREIT, bei dem sie darum rangeln, wer die überlegene, „bessere“ Rolle des Himmels haben darf und von da aus den anderen kleinmachen, abstrafen und in die Hölle verweisen darf.
In Wahrheit haben die beiden Eheleute beide Aspekte in sich selbst: Jeder von ihnen ist in sich gespalten zwischen Himmel und Wasser, zwischen unerreichbar hohen Idealen und einer emotionalen Wirklichkeit, die gar nicht perfekt ist… Beide sind erzkatholisch erzogen und halten die Ehe für unauflöslich. Das steht für beide eisern fest! So etwas Frivoles wie Glück ist da sekundär!
Und freilich, wenn man die peinliche, schwache Seite dieses inneren Konflikts auf sein Gegenüber projiziert, fühlt man sich selbst ein bisschen besser: Dann ist man überzeugt, dass jegliches Problem beim anderen liegen muss! Tatsächlich aber haben alle beide im Kopf unrealistische Vorstellungen über richtig und falsch. Sie erwarten von sich und dem anderen viel zu viel, und wenn der andere hinter den Erwartungen zurückbleibt, dann erhebt man sich über ihn und wertet ihn ab. Kein Wunder, dass es da eine Menge STREIT gibt, so etwas lässt sich schließlich niemand gern gefallen.
Nun, vielleicht hat Maria einen etwas stärkeren Himmel-Anteil als Gunther, ist sie es doch, die ihn regelmäßig zur Schnecke macht, weil er sich um nichts kümmert, sie allein lässt, immer außer Haus ist, ein Schlappschwanz und Feigling… Und Maria ist auch klar die kirchentreuere von beiden, sodass sie gerne die moralische Keule schwingt. Gunther wehrt sich auf seine Weise. Er macht es dann wie das Wasser: Er taucht ab, sabotiert und beschämt sie durch sein demonstrativ anklagendes Schweigen, zieht sich in seine kalte dunkle Zuflucht im Keller zurück, wo er abseits der Familie vor sich hinbastelt …
Im Fall von Gunther und Maria ist eine engherzige Moral für den STREIT verantwortlich, die aus einem menschenfeindlichen Religionsverständnis stammt. Sie reiben sich ihre Sünden und Verfehlungen unter die Nase, können sich aber auch nicht aus der quälenden Beziehung befreien, käme die Auflösung ihrer Ehe doch einer Todsünde gleich: Das Urteil lautet „lebenslänglich“! Unter so fatalen Umständen muss man sich wohl oder übel arrangieren …
und davon spricht Wandellinie 2
Man kann nicht STREITEN, kehrt heim und weicht aus.
Die Menschen seiner Stadt, dreihundert Häuser,
bleiben frei von Schuld.
Wenn Gunther und Maria STREITEN, leiden sie beide. Gunther kann Marias aggressiv-dominantes Geschrei überhaupt nicht haben, es zehrt an seinen Nerven. Wo ihm die Argumente fehlen und er schon ahnt, wohin eine weitere Auseinandersetzung führen würde, da hält er lieber den Mund, um sich und die Familie zu schonen. So hat sich Gunther angewöhnt, wenig daheim zu sein. Und wenn er daheim ist, dann verzieht er sich und will nicht gestört werden. Aus seiner Sicht folgt er dem Motto: Der Klügere gibt nach. Damit freilich begibt er sich selber wieder in die Himmel-Rolle: Er ist ja derjenige, der anständiger weise NICHT STREITET, sondern auf der moralisch „richtigen“ Seite bleibt. Seine Strategie geht auf, denn nun fühlt sich Maria, die ihr Mundwerk nicht im Zaum hat, schlecht und grollt ihm umso mehr…
Das Wandlungshexagramm #12 (oben Himmel, unten Erde) enthüllt das traurige Ergebnis: Zwar STREITET man nicht mehr, aber mit der STREIT-Reibung verschwindet auch der letzte Rest von Kontakt und Berührung. Nun gibt es nur noch kalte wechselseitige Verurteilung, wobei sich jeder als Himmel fühlt und den anderen zur verachteten Erde degradiert. Ein trauriges Ergebnis, man lebt nur noch nebeneinander her und redet schlecht über den anderen. Wo andere Paare sich dann vielleicht endgültig trennen, da ziehen Gunther und Maria die Sache durch…
Statt ihre Konzepte von Gut und Böse und ihre absurden Ansprüche an sich selbst zu überprüfen, leben sie als Feinde unter einem Dach.
Armer Gunther, arme Maria…